Genossenschaften - eine immer junge Idee

Im Zuge der schnellen Industrialisierung im 19. Jahrhundert zogen tausende Arbeitskräfte europaweit vom Land in die Städte, um hier ihrer wirtschaftlichen Not zu entgehen.
In den Städten fanden sie sich in für sie wirtschaftlich mehr als angespannten Situationen wieder. Arbeits- und Mietverhältnisse ohne jedweden Rechtsschutz, geringe Löhne und im Gegenzug dazu oftmals schlechte - gestreckte - Lebensmittel und weitere Abhängigkeit durch häufiges "Anschreiben" in den entsprechenden Lebensmittelläden.

Aus diesem Grund schlossen sich sehr schnell Arbeiter zu Vereinen und Genossenschaften zusammen, um ihre Lebensverhältnisse hinsichtlich des Einkaufes von Lebensmitteln selber in die Hand zu nehmen und somit letztlich abhängigkeitsfrei und qualitativ zu verbessern.

1844 schlug in England die Geburtsstunde der modernen Konsumgenossenschaft. In Rochdale gründeten 28 Mitglieder die "Rochdale Society of Equitable Pioneers". Ihre in der damaligen Satzung niedergeschriebenen Grundprinzipien wurden weltweit zu Leitlinien der Konsumgenossenschaftsbewegung.

1850 gründeten Eilenburger Handwerker und Arbeiter die Eilenburger Lebensmittelassociation und schufen damit die erste ordentliche Konsumgenossenschaft in Deutschland.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts betrieben Hermann Schulze-Delitzsch, Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Eduard Pfeiffer die Gründung von Handwerker- und landwirtschaftlichen Genossenschaften sowie Konsumgenossenschaften. Die Aktivität der beiden Erstgenannten führte dazu, dass bereits 1867 ein preußisches Genossenschaftsgesetz erlassen wurde. Am 1. Mai 1889 wurde dann das Reichsgesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften erlassen, das, wenn auch mit zahlreichen Änderungen, bis heute in Kraft ist. Frühere Namen wie etwa „Konsum-, Bau- und Spar-Verein Produktion eGmbH“ deuten bereits darauf hin, dass die Konsumgenossenschaften keineswegs auf den Lebensmittelhandel beschränkt waren. Vielfach bauten sie für ihre Mitglieder gleichzeitig Wohnungen und dienten andererseits als Sparkasse. Den Spareinrichtungen kam wirtschaftlich besondere Bedeutung zu, weil sie den Genossenschaften ermöglichten, sich finanzielle Mittel viel günstiger als bei den Banken zu beschaffen.

1894 wurde die deutsche Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine gegründet.

1901 erfolgte die Geburtsstunde unserer Erfurter Konsumgenossenschaft und im Jahre 1903 erfolgte die Gründung des "Zentralverbandes deutscher Konsumvereine eG" in Dresden.

1933 bis 1945 waren die Konsumgenossenschaften weitestgehend zerschlagen und ihr Zentralverband war aufgelöst.

1949 wurde der "Verband Deutscher Konsumgenossenschaften eG (VDK)" in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone gegründet und bis 1989 war der KONSUM als privatwirtschaftliches Unternehmen das zweitgrößte Handelsunternehmen in der DDR mit gut 4,6 Mio. Mitgliedern.

Auch in den alten Bundesländern blühten die Konsumgenossenschaften wieder auf. Anfang der 60er Jahre erreichten sie ihren Höchststand mit 2,6 Millionen Mitgliedern, 79.000 Beschäftigten und fast 10.000 Läden.

Nach 1990 gerieten viele ostdeutsche Konsumgenossenschaften in starke wirtschaftliche Schwierigkeiten und mussten ihren Betrieb einstellen. Es gelang aber auch einer Vielzahl von Genossenschaften in der neuen Zeit Schritt zu fassen und mit Initiative und Innovation ihre Unternehmen im Interesse der Mitglieder zu sichern.

Heute gehören zum Portfolio der Konsumgenossenschaften nicht nur der Warenvertrieb oder die Warenproduktion, sondern auch immer mehr Dienstleistungen wie es in unserer Genossenschaft der Fall ist.


Quellen:
Martin Broszat, Hermann Weber: SBZ- Handbuch, Universität Mannheim. Arbeitsbereich Geschichte und Politik der DDR., Institut für Zeitgeschichte, Verlag: Oldenbourg; 2. Auflage 1993, Seite 767, ISBN 3-486-55262-7

Literatur:
Johnston Birchall: The International Co-operative Movement. Manchester University Press, Manchester u. a. 1997 ISBN 0-7190-4824-9.
Johann Brazda, Robert Schediwy (Hrsg): Consumer Co-operatives in a Changing World. Comparative Studies on Structural Changes of some selected Consumer Cooperative Societies in industrialized Countries. 2 Bände. International Co-operative Alliance, Genf 1989, ISBN 2-88381-000-1.
Erwin Hasselmann: Geschichte der deutschen Konsumgenossenschaften. Knapp, Frankfurt am Main 1971.
Heinrich Lersch: Die Pioniere von Eilenburg. Roman aus der Frühzeit der deutschen Arbeiterbewegung. Büchergilde Gutenberg, Berlin 1934.
Michael Prinz: Brot und Dividende. Konsumvereine in Deutschland und England vor 1914. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1996, ISBN 3-525-35775-3 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 112), (Zugleich: Bielefeld, Univ., Habil.-Schr., 1992).
Uwe Spiekermann: Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des Einzelhandels in Deutschland 1850–1914. Beck, München 1999, ISBN 3-406-44874-7, S. 238–277, 446–463 (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte Schriftenreihe 3), (Zugleich: Münster, Univ., Diss., 1996).

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